Die Eine oder der Andere werden sicher schon bemerkt haben, dass ich Bücher mag, die in gewisser Weise rätselhaft bleiben und sich nicht so leicht in ein bestimmtes Schema pressen lassen. Außerdem reizen mich schräge Charaktere, die nicht bis ins allerletzte Detail auserzählt werden. Da macht Mieko Kawakami mit ihrem gerade bei Dumont erschienenen Roman All die Liebenden der Nacht bei mir gleich zweimal klick.

Fuyuko, Mitte 30 und freiberufliche Korrekturleserin, lebt in selbstgewählter Isolation in Tokio. Ihre berufliche Tätigkeit spiegelt perfekt ihre generelle Haltung zum Leben wider: korrekt, distanziert und kontrollierend. Sie liebt es, Bücher zu korrigieren, ohne sich jemals auf den Inhalt einzulassen. Genau so hält sie es mit dem Leben: beobachten aber nicht teilnehmen. Freundschaften oder gar Beziehungen finden kaum statt. Diese Fassade kommt ins Wanken, als sie, anfänglich durch Zufall, beginnt Alkohol zu trinken. Der leichte Rausch und zunehmende Kontrollverlust wirft sie ins Leben und zwingt sie, in Beziehung zu gehen. Vor allem mit einem älteren Mann, einer Zufallsbekanntschaft, die aber eine immer stärkere Bedeutung in ihrem Leben einnimmt.

Was jetzt klingt wie eine Lobhudelei eines Weinhändlers auf den Alkoholkonsum, entpuppt sich bei genauerem Lesen als weitaus vielschichtiger. Das Trinken, genau wie die Liebe, dienen lediglich als Metaphern für Fuyukos Kampf gegen die Dämonen ihrer Jugend und für ihre Entwicklung hin zu einem selbstbestimmten Leben. Letztlich gelingt es ihr, beides hinter sich zu lassen und sich wie ein Schmetterling aus ihrer Verpuppung zu befreien.

Mir hat besonders die sehr feine und achtsame Sprache Kawakamis gefallen, die sehr von ihren evozierten Bildern und Stimmungen lebt und bei aller Detailverliebtheit, immer Platz für eigene Gedanken und Interpretationen lässt. Das ist mit Sicherheit auch der sehr schönen Übersetzung von Katja Busson geschuldet.

Ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken und Hinterfragen eigener Verhaltensmuster und gesellschaftlicher Normen geradezu einlädt.

Bernhard Sinn

Mieko Kawakami, All die Liebenden der Nacht, DuMont Verlag 2023, 236 Seiten

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