Was geschah mit Alison Thomas ? Darum dreht sich der vordergründige Handlungsstrang in Alexis Schaitkins Romandebut Saint X. Auf den ersten Blick ein klassischer Krimi-Plot und genauso beginnt der Roman. Auf der fiktiven Karibikinsel Saint X verschwindet die achtzehnjährige Alison am letzten Abend ihres Winterurlaubs, den sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer deutlich jüngeren Schwester Claire dort verbracht hat. Das Rätsel des Verschwindens wird ziemlich schnell gelöst: Alisons Leiche wird nach einigen Tagen gefunden, offensichtlich ist sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Verdächtige sind schnell ausgemacht, zwei einheimische junge Männer, die als Letzte mit dem Opfer zusammen gesehen wurden, aus Mangel an Beweisen allerdings auch genau so schnell wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Schlussendlich werden die Ermittlungen bald eingestellt.
Knapp zwanzig Jahre später begegnet die inzwischen erwachsene Claire durch Zufall Clive Richardson, einem der ehemals Hauptverdächtigen, der inzwischen sein Leben als Taxifahrer in New York verbringt. Jetzt erst beginnt die eigentliche Handlung des Romans: Claire fängt an, Clive zu verfolgen, in der Hoffnung, irgendwelche Details herauszufinden, die Rückschlüsse auf das wirkliche Geschehen vor knapp zwanzig Jahren zulassen. Sie ist regelrecht besessen von dieser Idee und gibt nach und nach ihr bisheriges Leben auf, lebt einzig in dem Wahn, Clive und damit auch ihrer verstorbenen Schwester näher zu kommen.
So entwickelt sich Saint X immer mehr zu einem Roman über psychische Obsessionen, der dabei aber einen großen Bogen schlägt und Themenfelder wie innerfamiliäre Spannungen, Identität, Rassismus, die mediale Faszination von Gewaltverbrechen, das schwierige Verhältnis zwischen sogenannter entwickelter Welt und dem Rest ebendieser, mehr oder weniger ausführlich problematisiert. All dies wird sehr virtuos von einem vielschichtigen Chor an Stimmen orchestriert, viele Randfiguren kommen kurz zu Wort und berichten aus ihrem Leben oder erzählen ihre Version der damaligen Ereignisse. Die eigentliche Auflösung des Verbrechens gerät immer stärker in den Hintergrund und Saint X wird zunehmend zu einem brilliant komponierten Gesellschaftsroman, der sein vorgebliches Genre weit hinter sich lässt, sich dabei trotzdem mit großer Spannung lesen lässt.
Bernhard Sinn