Leider nur 192 Seiten! Das ist eigentlich der aussagekräftigste Kommentar zu Birgit Birnbachers neuem Roman. Das Buch hätte meinetwegen ewig weitergehen können und dennoch hat es genau die richtige Länge. Jedes Wort, jede Formulierung sitzt, passt und bringt Saiten zum Schwingen und ruft innere Welten hervor. Perfekt.

Julia Noch ist durch einen Moment der Unachtsamkeit, durch Überforderung, ihre Arbeit als Krankenschwester los. Gesundheitlich angeschlagen, die Atmung, beschließt sie, zurück ins elterliche Haus, ins Dorf, ins österreichische Innergebirg zu ziehen. In ihren Augen eine Kapitulation, ein sich Fügen in die Tradition. in der Frauen im Dorf bleiben und sich um die Familie kümmern. Aber was ist übrig von ihrer Familie? Der Vater ist in desolatem Zustand, die Mutter in einem Akt der Rebellion auf nach Italien, der Bruder als Pflegefall im Sanatorium. Und was ist überhaupt übrig vom Dorf, seitdem der letzte große Arbeitgeber, die Fabrik, die Tore dicht gemacht hat? Einzig der Städter Oskar, nach einem Herzinfarkt in der Reha und eine Ziege vermögen Julias Interesse zu wecken, lassen sie etwas versöhnlicher auf ihre Situation blicken.

Wer jetzt eine Liebesgeschichte, womöglich eine kitschige, erwartet, irrt sich gewaltig. Die gibt es zwar, eine sehr zarte und poetische, aber Birgit Birnbacher unterlegt die ganze Handlung mit tiefsinnigen und philosophischen Betrachtungen zum Thema Arbeit. Was ist Arbeit dem Menschen, was ist der Mensch ohne sie. Was definieren wir überhaupt als Arbeit, bzw, was alles gilt in unseren Augen als Arbeit. Wie ist unser Rollenverständnis und das Geschlechterverhältnis bezogen auf Arbeit und wie gerecht ist diese verteilt. Das sind nur einige Aspekte. Die Autorin zieht mit dieses Themenfeld praktisch eine zweite Ebene in den Roman und gibt ihren Leser:innen auf diese Weise um so mehr Nahrung und Impuls für eigene Überlegungen und Gedanken.

Ich habe den Roman innerhalb kurzer Zeit zwei mal gelesen. Jedes mal habe ich mich gerne von der schönen poetischen Sprache einfangen und von den klugen Gedanken forttragen lassen. Das ist ganz große Literatur!

Bernhard Sinn

Birgit Birnbacher,Wovon wir leben, Zsolnay Verlag, 2023 ,192 Seiten

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