Was haben ein Leben als Bibliothekarin und eines als Psychotherapeutin gemeinsam? Mehr als wir auf den ersten Blick annehmen, zumindest wenn wir Jenny Offill oder ihrer Protagonistin Lizzie Benson Glauben schenken wollen.

Jenny ist über Umwege nach abgebrochenem Studium als Mitarbeiterin in der Universitätsbibliothek gelandet. Dort kümmert sie sich um die teils abwegigen Sonderwünsche ihrer Kund:innen und versorgt die spleenigen Dauerkundschaft mit guten Ratschlägen und praktischer Lebenshilfe. Zu Hause kümmert sie sich neben ihrer aus Mann und Kind bestehenden Familie, um ihren ehemals/wieder drogenabhängigen Bruder und ihre pietistisch veranlagte Mutter. Ganz schön viel Belastung für ganz schön wenig Entlohnung. Deshalb ergreift sie nach kurzem Zögern das Angebot ihrer ehemaligen Professorin, den von ihr geführten Klimawandel- und Weltuntergangs-Podcast mit dem schönen Namen "Hell or Highwater" zu betreuen, Lizzie soll die immer zahlreicher werdenden Mailkommentare und Fragen der Hörerinnen und Hörer beantworten. Und da sind wieder einmal gute Ratschläge, Lebenshilfe und gesunder Menschenverstand gefragt. Was aber wenn eben dieser aufgrund akuter Überforderung, einer Faszination an Untergangsszenarien und einer leichten Neigung zu Prepper-Fantasien, abhanden zu kommen droht ?

Lebensklug, witzig und mit viel Empathie lässt uns Jenny Offill am Leben ihrer Figur teilhaben. Und sind das nicht Charakterzüge, die wir Alle an unseren Therapeut:innen und Bibliothekar:innen zu schätzen wissen ?

Bernhard Sinn

Jenny Offill, Wetter, Piper Verlag 2021, 224 Seiten

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