Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin großer Seddig Fan. Ich liebe ihre Bücher, in denen sie oft Menschen an den sogenannten Rändern der Gesellschaft in den Fokus rückt und diesen mit großem Herzen und bewundernswertem Einfühlungsvermögen eine Stimme gibt. Sie bringt uns diese Menschen näher. Das ist nicht immer leicht auszuhalten aber es lohnt sich unbedingt.
So auch in ihrem neuen Roman. Nadine ist anders als die anderen Mädchen, groß, kräftig und laut. Sie eckt an, ihr fehlt es an Impulskontrolle, nicht aber an Gewaltbereitschaft. Das macht sie zur Außenseiterin. Aber Nadine weiß, was sie will und eines will sie garantiert nicht: Mitleid. Ihre Mutter hat früh die Familie verlassen und sie wuchs alleine mit ihrem Vater auf, der seine völlige Überforderung durch strenge und krude Erziehungsprinzipien zu kompensieren versuchte. Obwohl Einiges sie für die Opferrolle prädestiniert, wehrt sie sich vehement dagegen. Sie arrangiert sich mit ihrem Leben, findet einen Beruf und einen Mann.
Ihr größtes Glück ist ihre Tochter Mizzi, der sie aber aus Mangel an Vorbildern kein wirkliches Gegenüber sein kann. Auch Mizzi hat es im Leben nicht leicht. Aber Nadine hält zu ihrer Tochter und unterstützt sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Als eines Abends die Polizei an der Tür klingelt und Nadine von Mizzis Selbstmord berichtet, bricht etwas in ihr. Sie fängt an, auf ihre ganz eigene Art gegen private und gesellschaftliche Erwartungshaltungen zu rebellieren. Sie will verstehen. Und als sie beginnt zu verstehen, will sie Rache.
Katrin Seddig hat mit Nadine wieder eine Figur geschaffen, an der man sich reiben kann und muss. Sie ist nicht direkt sympathisch und verlangt den Leser:innen Einiges ab aber genau darin liegt für mich die große Kunst: durch feines und genaues Beobachten und Beschreiben, gelingt es Katrin Seddig, uns ins Boot zu holen und trotz aller Vorbehalte mit ihrer Protagonistin mitzufühlen. Immer wieder habe ich mich in meinen Vorurteilen ertappt gefühlt. Seddig hält uns in unserer Blase und als gesamter Gesellschaft den Spiegel vor. Nicht angenehm aber wichtig. Und unglaublich gut geschrieben.
Bernhard Sinn