Ein wunderbares Buch. Germana Fabiano erzählt die ergreifende Geschichte von Nora und den Bewohner:innen der süditalienischen Insel Katria. Katria lebt traditionell vom Thunfischfang. Alljährlich wird ein großer Schwarm in die dafür vorbereiteten Netze getrieben und in einer perfekt choreografierten Gemeinschaftsaktion der Fischer, der Mattanza, erlegt. Bilder dieses blutrünstigen Schauspiels sind vielleicht bekannt, ein Spektakel sondergleichen, nicht schön aber eben Tradition.
Diese Jagd wird vom Rais, dem inoffiziellem Oberhaupt der Insel, geleitet und orchestriert. Die bereits erwähnte Tradition besagt, dass dieses Amt innerhalb der Familie in väterlicher Erblinie weitergeben wird. Was aber wenn es in der Erbfolge nur Mädchen gibt? So geschehen bei der Familie Greco. Dem alten Rais werden nur Enkelinnen geboren. Er entschließt sich, mit der Tradition zu brechen und seine letztgeborene Enkelin Nora zum zukünftigen Rais zu machen. Sie wird als junges Mädchen von ihrer Familie getrennt und wächst bei ihrem Opa auf, der sie nach und nach in allem ausbildet, was mit Fischerei und Meer zu tun hat und sie so an ihr zukünftiges Amt heranführt. Diese Entscheidung wird auf der Insel respektiert, auch wenn ihr auf Grund ihres Geschlechts mit Argwohn begegnet wird und Nora weitestgehend isoliert von ihren Altersgenoss:innen heranwächst.
Über einen Zeitraum von 50 Jahren begleiten wir Nora und die Inselbewohner:innen durch ihr bewegtes Schicksal in Zeiten des Umbruchs und der Veränderung: aufkommender Tourismus, ausbleibende Thunfischschwärme, gesellschaftliche Veränderungen und vor allem der einsetzende und stetig anwachsende Zustrom an Geflüchteten, die sich von Afrika kommend in ihren untauglichen Schiffen auf die gefährliche Reise übers Meer wagen. Inwieweit spielen Traditionen oder individuelle Entscheidungen im Angesicht dieser globalen Umwälzungen überhaupt noch eine Rolle? Wie weit geht der eigene Einflussbereich? Unterm Strich bleibt nur die Menschlichkeit und dieser Umstand wird von Germana Fabiano in diesem Buch wunderschön in Worte gekleidet.
Übersetzt von Barbara Neeb und Katharina Schmidt
Bernhard Sinn