„Es gibt dunkle Geheimnisse und es gibt glückliche Geheimnisse.“

So beginnt Arno Geiger sein neues, autobiographisches Buch. Die Leserin stutzt: sind Geheimnisse nicht eher negativ konnotiert? Und noch erstaunter ist sie, als der Autor ein paar Sätze weiter sein Geheimnis verrät: er war ein Lumpensammler. Über zwanzig Jahre hat er frühmorgens eine Runde durch die Papiermülltonnen Wiens gedreht. Mit dicker Mütze, dreckigen Klamotten und abweisendem Gesicht. Was zur Aufbesserung der mageren finanziellen Verhältnisse des anfangs erfolglosen Berufsschriftstellers begann, wurde zur Leidenschaft. Und später zur willkommenen Möglichkeit, sich als berühmter Autor auf die andere Seite der Gesellschaft zu begeben und als Person zu erden.

Bei den Funden ging es nicht nur um Bücher, die man antiquarisch auf dem Flohmarkt gut weiterverkaufen konnte (selbstverständlich erst, nachdem sie selbst gelesen worden waren), sondern zunehmend um weggeworfene Tagebücher und Briefe aus allen Zeiten. Geiger sagt, diese in einfacher Sprache verfassten Dokumente aus dem Leben ihm fremder Menschen, haben ihm einen sehr wertvollen Erfahrungsschatz auch für die eigene Weltsicht, für Gespür und Intuition vermittelt.

Nicht zuletzt der einfache Stil, der ihn in seiner eigenen Arbeit vor Manieriertheit und hölzernen Formulierungen bewahrt habe.

„Beim Schreiben bewegte ich mich in einem Erfahrungsraum, dessen hinterste Winkel mir mehrfach gefundene Briefe und Tagebücher ausgeleuchtet hatten.“

Arno Geiger schreibt offen über sein Leben. Über die Liebe, seine Beziehungen, Sorge um die Eltern. Immer neue Schicksalsschläge, die er zu verkraften hat. Seinen Weg als Schriftsteller und immer wieder als Sammler im Morgengrauen. Er reflektiert sein Tun. Darf man das überhaupt? Persönliche Zeugnisse fremder Menschen nehmen, sie lesen und als Inspiration für die eigene literarische Arbeit benutzen? Was macht überhaupt einen guten Schriftsteller aus?

Vor ein paar Jahren hat der Autor seine Sammelrunden aufgegeben. Jetzt kann er sein Geheimnis lüften. Es scheint, dass er mit diesem Buch die Welt an seinen Erfahrungen teilhaben lassen will. Genau wie er so oft durch die gefundenen Briefe und Tagebücher am Leben anderer teilgenommen hat und daraus etwas für sich persönlich lernen konnte. Er will etwas zurückgeben und ich habe es gern genommen. Vieles, das ich in Bezug zu meinem eigenen Leben setze und neu darüber nachdenke. Ein großer Gewinn. Und natürlich möchte ich sofort die älteren Titel Arno Geigers wieder lesen, gespannt, ob ich mit meinem neuen Wissen noch andere Dinge darin sehen kann.

„Dabei sind Bücher eines vom Großartigsten, was es gibt, in mehr als nur einer Hinsicht. Durch Lesen verkürzen wir unsere Lebenszeit nicht, wir verlängern sie. In wenigen Stunden können wir die Erfahrungen nachvollziehen, die ein anderer Mensch in Jahren oder Jahrzehnten gemacht hat. Wir gewinnen Erfahrung im Zeitraffer. Derlei Wundersames vermögen Bücher.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bärbel Hanauske

Arno Geiger, Das glückliche Geheimnis, Hanser 2023, 240 Seiten

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