Da lebt man so nichtsahnend in Schaumburg vor sich hin und weiß nicht, dass es nur 15 Kilometer weiter eine Parallelgesellschaft gibt, von der man noch nie gehört hat. Was ich meine? Die mennonitischen Gemeinden in Minden und auch weiter nach Ostwestfalen hinein. Die Mitglieder kamen nach dem Ende der Sowjetunion als sogenannte Aussiedler nach Deutschland und leben hier in ihrer eigenen Welt. Sehr lesenswert beschrieben in dem Roman „Nachtbeeren“ von Elina Penner. Auch die Autorin wurde in der Sowjetunion geboren. Als Kind siedelte sie mit ihrer Familie nach Minden über, ist dort aufgewachsen und lebt nach Jahren in Berlin mittlerweile wieder in Minden. Ihre Muttersprache ist Plautdietsch, eine Abwandlung des Deutschen, die in Mennonitengemeinden auf der ganzen Welt gesprochen wird,
In dem Roman geht es um Nelli Neufeld. Sie kam im Alter von fünf Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland: Urgroßeltern, Großeltern, Eltern und vier deutlich ältere Brüder. Sie war die niedliche Kleine, für die sich nie jemand wirklich interessierte, die niemand ernst nahm. Nur ihre Oma hatte sie im Blick und kümmerte sich um sie. Jetzt ist Nelli Anfang 30 und unglücklich verheiratet, aber so ist das eben: Man ist vielleicht verliebt, dann schon schwanger und also heiratet man. Und bleibt verheiratet - auch wenn man sich nichts zu sagen hat, auch wenn der Mann fast gar nicht mehr da ist, auch wenn man sich schrecklich allein fühlt und außer Jesus niemanden zum Trost hat. Immerhin gibt es Jakob, den halbwüchsigen Sohn. Er steht seiner Mutter nahe und geht ganz in der Gemeinde auf. Als er eines Tages eine schockierende Entdeckung macht, gerät die ganze, vorgeblich heile Welt ins Wanken.
Der Roman schildert in Rückblenden die gefühlte Geschichte der Familie in Deutschland. Wie es ist, wenn man endlich in das erträumte Deutschland ausreisen darf, dort aber nicht willkommen ist und nur abschätzig behandelt wird. Wo der unbedingte Ehrgeiz herkommt, der Armut zu entkommen: ein eigenes Haus bauen, ein großes Auto fahren und nie wieder gebrauchte Sachen kaufen. Man ist in der eigenen Religionsgemeinschaft eingebettet, aber man kennt auch keine Alternative. Es wird betont, dass man freiwillig dazugehört, aber ein Leben außerhalb ist nicht vorstellbar. Und als Nelli nach dem Tod ihrer Oma in eine Krise gerät, ist ihre einzige Hoffnung, fromm zu werden und sich noch enger an die Kirche und die strengen Regeln zu binden.
Ein zuweilen skurriles, anrührendes Buch, erzählt in einem lakonischen Ton. Es bringt der Lesenden eine fremde Welt nahe, die doch gleich um die Ecke liegt.
Die Autorin kommt am 11. Mai 2023 zu Buch zum Wein zur Lesung. Wir freuen uns schon sehr!
Bärbel Hanauske