Ich verlasse dich. Das sind die drei Worte, die die Erzählerin am Anfang von Julia Schochs Roman ihrem Partner sagen möchte. Drei Worte, genau wie am Anfang der Beziehung vor knapp dreißig Jahren. Damals hießen sie: Ich liebe dich. Aber könnten nicht auch diese drei Wörter am Ende stehen? Dieser Frage geht Julia Schoch in ihrem neuen Roman nach und spannt damit einen großen Bogen über drei Jahrzehnte und fast ein halbes Leben. Die anfängliche Verliebtheit und Idealisierung des Partners während des gemeinsamen Studiums in der Zeit nach der Wende. Das Hin und Her am Anfang.Zusammenziehen, berufliche Orientierung und Karriere, Familiengründung, Zunehmende Ernüchterung und Abnutzung der großen Gefühle im Beziehungs- und Familienalltag. Das Genervtsein vom Anderen. Das Ungleichgewicht in der Aufteilung der Haushaltspflichten und der Fürsorge für die Kinder. Verdacht auf Untreue. Im Rückblick überwiegen bei der Erzählerin deutlich die unschönen Gefühle und Erinnerungen. Im Prozess des Erinnerns stellt sie sich aber auch die Frage nach dem Wesen ihrer Zuneigung zueinander und begibt sich auf die Suche nach dem Kern ihrer so lange anhaltenden Beziehung. Was hat sie zu einander halten und zusammen bleiben lassen? Ist eine Ehe wirklich gescheitert, wenn man auf so eine lange gemeinsame Zeit zurückblickt? Letztlich muss sie sich auch mit den Fragen nach ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer Geschichte und Entwicklung stellen, um im Kern zu einer Beantwortung dieser Fragen zu gelangen.Das alles macht die Erzählerin mit einer bewundernswerten, schonungslosen Offenheit und Ehrlichkeit sich selbst und den Leser:innen gegenüber. Sie spart nichts aus und versucht nicht, unangenehme Wahrheiten zu beschönigen. Julia Schoch gelingt es, diese Findungs- und Erforschungsprozesse in wunderbare, einfühlsame Sprache zu verpacken und ihre Leser:innen auf diese Reise mitzunehmen. Und welche drei Worte nun am Ende des Roman stehen, das sei hier nicht verraten.

Bernhard Sinn

Julia Schoch, Das Liebespaar des Jahrhunderts, dtv Verlag, 2023 , 192

Seiten

Weitere Blogbeiträge

13/12/2021

Zeruya Shalev, Schicksal

Ein berührender Roman, der uns Israel damals und heute näher bringt...
24/02/2024

Yishai Sarid, Schwachstellen

Ich bin mir bei diesem Buch nicht sicher, wo ich es einordnen soll. Handelt es sich um eine Dystopie? Sicherlich im Hinblick auf die vorherrschende düstere und pessimistische Gesamtstimmung des Romans und der abgebildeten Gesellschaft. Andererseits sind viele der beschriebenen geheimdienstlichen Technologien und Möglichkeiten längst technisch umsetzbar oder gängige Praxis. Nicht umsonst spielt der Roman größtenteils in Israel. Wer also hier an die israelische Spähsoftware Pegasus denkt, ist sicherlich auf der richtigen Fährte...
11/02/2023

Virginie Despentes, Liebes Arschloch

Virginie Despentes ist zurück. Und wie! Mit Liebes Arschloch schließt sie nahtlos da an, wo sie mit der großartigen Vernon Subutex Trilogie aufgehört hat. Schon allein der Titel sagt alles. Es wird geschimpft, geflucht, gehasst...