Alle mal herhören! Knausgård hat ein neues Buch geschrieben.

Ja, ich meine tatsächlich alle, alle Knausgård-Fans und alle, die es bisher abgelehnt haben, dicke Bücher zu lesen, die ausschließlich vom Ego des Autors gesteuert werden.

Der Morgenstern ist ein fiktiver Roman über das Auftauchen eines Himmelsphänomens, über Menschen, Tiere und eine Natur, die aus den Fugen gerät.

Es ist ungewöhnlich heiß und schwül dieser Tage in Bergen, einem kleinen Ort an Norwegens Küste. Ratten tauchen plötzlich an überraschenden Stellen auf, Krabben spazieren zu Hunderten aus dem Meer an Land, Katzen kommen seltsam ums Leben und scheinen dann doch nicht richtig tot zu sein. Irgendwo im Wald wurde eine zerstückelte Leiche gefunden. Ein zuvor klinisch Toter zeigt plötzlich wieder Lebenszeichen. Dazu kommt dieser neue unerklärliche Stern, über den die Menschen und die Medien rätseln. Verheißt er Gutes oder Unheilvolles? Ist er schön oder unheimlich? Plötzlich wird über Totenkulte, Religion und Katastrophen nachgedacht. Es gruselt und schaudert also. Das Buch erzählt dennoch völlig glaubwürdig und ganz realistisch vom Leben der neun Protagonist:innen, über das, was sie in diesen Tagen erleben, fühlen und denken, wie und warum sie so handeln, sich begegnen, ihre Arbeit verrichten, telefonieren, organisieren, verdrängen, Alkohol konsumieren, Zigaretten rauchen und Kinder oder Kranke betreuen.

Als Leserin lernte ich fünf Erzählerinnen und vier Erzähler, jeweils aus ihren Perspektiven bis ins Innerste kennen. Ich konnte jedes beschriebene Detail nachvollziehen und verstehen, auch wenn ich es mir nicht so recht vorstellen mochte. Der Morgenstern ist kein Psychothriller, kein Krimi, kein Fantasyroman und hat doch von allem etwas.

Knausgård hat die Fähigkeit, Menschen in ihrer Psyche und Physis im Detail zu beschreiben. Das ist das Kerngeschäft. Seine Sprache entwickelt eine enorme Anziehungskraft und Sogkraft auf die Lesenden. Außerdem bleibt die Geschichte bis zum Schluss spannend, so dass ich alles in allem das Buch nicht aus der Hand legen mochte. Die stabile Ich-Konzentration Knausgårds, die viele Leser:innen genervt hat, zerstreut sich auf viele Personen und Episoden. Und dennoch: Wie schafft der Autor es, ein nur wenige Tage dauerndes Geschehen auf fast 900 Seiten zu beschreiben, ohne, dass es langweilig wird? Irre!

Heike Ruhe

Karl Ove Knausgård, Der Morgenstern, Luchterhand Verlag, 2022 896 Seiten

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