Wenn man das urbane Leben gewohnt ist, zum Beispiel in Leipzig, und fängt Knall auf Fall ein neues Leben auf dem Land an, zum Beispiel in Pohle/Schaumburg, dann kann man das ganz gut in einem Roman verarbeiten. Oder, wie in diesem Fall, sogar sehr gut.

Die Schriftstellerin Vera lebt mit ihrem Partner Claus, einem Maler, und dem dreijährigen Sohn in Leipzig. Als Claus von seinem Vater ein größeres Geldgeschenk erhält, kaufen die beiden recht spontan einen Resthof in einem Dorf in Niedersachsen. Es gibt viel zu tun: umziehen, das Gebäude überhaupt bewohnbar machen, einen Selbstversorger-Garten anlegen.

Claus stürzt sich mit Feuereifer in die Arbeit. Auch kennt er keine Berührungsängste mit den Einheimischen: Erntefest, Männergesangverein – warum nicht? Der kleine Siggi findet es ebenfalls gut hier. Oben auf einem echten Trecker mitfahren ist ja wohl das Größte.

Aber Vera fremdelt. Sie ist hier aufgewachsen, war der Enge der Provinz entkommen und jetzt ist sie doch zurück. Sie möchte wie eine der coolen Großstadtmütter sein, die entspannt auf dem Spielplatz intellektuelle Zeitungen lesen, wenn sie nicht gerade in ihren stylischen Klamotten und mit perfekter Frisur mit den Kindern spielen. Doch passt das eigentlich gar nicht zu ihr und in ihrem neuen Leben wäre das völlig deplatziert. Sie hadert mich sich, mit dem Mann. Sie kämpft mit ihren Ansprüchen, den Erwartungen. Einzig das innige Verhältnis zu ihrem Sohn tröstet sie. Auch die Natur hilft. Nach und nach kann sie sich besser einfinden und wieder positive Dinge wahrnehmen. Als Vera wieder schwanger wird, färbt die Freude über das neue Leben in ihr ab auf das neue Leben um sie herum.

Komm, wir machen einen Spaziergang.“ Claus nimmt meine Hand. Wir gehen durch die Felder. Wir reden miteinander, als hätten wir uns viele Wochen nicht gesehen. Wir erinnern uns an Siggis Geburt, an Claus´ Tränen im Kreißsaal, an die Taxifahrt nach Hause, an all das Lustige und Neue, das mit einem Mal in unser Leben einbrach.

Und jetzt sind wir hier!“, sagt Claus. Er bleibt stehen. Die Felder sind nur schwach erhellt vom Sternenglühen. Der Himmel ist samtblau, wie ein tiefes unergründliches Gewässer. Hinter uns liegt das Dorf, der Garten, das Haus, in dem wir jetzt leben. „Ich weiß gar nicht mehr, wer ich vorher war“, sagt Claus. „ Dabei ist all das noch gar nicht lange her.“

Ich nicke. „Weißt du denn, wer du jetzt bist?“, frage ich ihn.

Er denkt nach. „Nein“, sagt er schließlich. „Aber ich weiß, dass ich nicht mehr derselbe bin. Und auch du hast dich verändert.“

Dies ist der Roman einer Verwandlung. Mit genauer Beobachtungsgabe beschreibt Lisa Kreißler den Weg vom Stadtmenschen hin zu einer, die einen innigen Bezug zur Natur hat. Und sich sogar mit den misstrauischen Schaumburgern arrangiert. Das Künstlerpaar bleibt eigen und so soll es ja auch sein. Sie sind angekommen. Mir hat besonders gefallen, dass die Autorin scheinbar Alltägliches in poetische Bilder und Reflexionen umsetzt. Beispiel: Vera holt ihren Sohn aus dem Kindergarten ab:

Ich breite die Arme aus, er ist fast bei mir, die Zähne blitzen in seinem Mund, auch Siggi breitet die Arme aus, und ich muss achtgeben, dass ich nicht umkippe, als er gegen mich prallt, landet, auf seinem Mutterplaneten, den er gezwungen ist zu lieben, egal in welche Dunkelheit er dafür gehen muss.

Am 10.09.21 stellt die Autorin den Roman bei der Premierenlesung von „Buch zum Wein“ vor.

Wir freuen uns!

Wer mag, kann das Buch im Vorfeld erwerben und schon mal reinlesen. Im Anschluss werden signierte Exemplare erhältlich sein. Lektüre unbedingt empfohlen!

Bärbel Hanauske

Lisa Kreißler, Schreie & Flüstern, Mairisch 2021, 224 Seiten

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