Mutig und unerschrocken schreibt Miku Sophie Kühnel ihren Debütroman und schafft es auf die Shortlist des Deutschen Buchhandels.

Wir lesen ein Beziehungsdrama als Kammerspiel.

Vier Personen verbringen zwei Tage in einem Ferienhaus am See. Ein Psychodrama mit tiefschürfenden Rückblicken.

Zur Erklärung: Kintsugi ist die japanische Handwerkskunst, zu Bruch gegangene Keramik mithilfe von mit Pulvergold versetztem Lack zu reparieren. Die Brüche bleiben sichtbar. Perfektion im Unperfekten, eine japanische Philosophie, ästhetisches Prinzip und psychologische Theorie.

Die Autorin nimmt sich mit dieser Symbolik viel vor. Max, Reik, Tonio und Pega, die vier Ich-Erzähler:innen, sind miteinander verflochten und aneinander gekittet. Sie leben in einer modernen Version von Goethes Wahlverwandtschaften.

Max, gut aussehender Archäologieprofessor an der Uni, Sauberkeits- und Ordnungspedant und Reik, charismatischer freischaffender Künstler mit Ausstellungen in aller Welt, Alltagschaot und Phlegmatiker, sind seit genau zwanzig Jahren ein Paar.

Tonio, alleinerziehender Vater, bisexueller Barpianist und seine 20 jährige Tochter Pega sind die einzigen Gäste im Ferienhaus des Paares, um das 20jährige Jubiläum mit Essen, Trinken, Reden und Spazierengehen zu begehen.

Tonio hatte mit Reik seine ersten sexuellen Erfahrungen. Die beiden sind immer noch mehr als nur lose befreundet. Pega wurde nicht nur von ihrem Vater großgezogen. Max und Reik agierten stets als rührige Teilzeitväter und Unterstützer. Jede:r kennt hier jede:n in und auswendig. Jede:r liebt auf die eigene Weise und ist auf eigene Weise bis zur Unerträglichkeit abhängig vom anderen. In den Kapiteln Wabi – Sabi werden wir nicht nur durch zwei turbulente Tage geführt, sondern erhalten vor allem gekonnt differenzierte Einblicke in die Gefühlswelten und in die Lebensgeschichten der Protagonist:innen. Es bleibt spannend, wie das Wochenende endet.

Die Autorin zeichnet einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft, in dem alle sehr begabt und erfolgreich sind. Selbst ein Ferienhaus ist voller Gegenstände und Mobiliar, die von erlesenem Geschmack und prallem Geldbeutel zeugen. Die Beziehungen sind queer, die Familiengeschichten allesamt nicht die aus der bürgerlichen, heilen Kleinfamilie.

Musste das denn sein? Geht es noch abgehobener?

Wenn schon, denn schon...mag sich Frau Kühnel gedacht haben. In dieser Welt sind tiefschürfende Gedanken, gut aussehende Männer, Sex zu allen Tages- und Nachtzeiten, sowie bunte Lebensgemeinschaften, selbstverständlicher und vielleicht auch leichter und interessanter zu platzieren, so denke ich.

Die Autorin schafft es, Beziehungsmuster zu entwerfen, die weit entfernt sind vom herkömmlichen Mann-Frau-Eltern- Schema. (Parallelen nicht ausgeschlossen) Sehr dynamisch und vollkommen unbewertet vögeln sich hier die drei Männer minutiös beschrieben durch den Roman. Ich finde diesen Aspekt richtig gut und mitnichten billig oder nebensächlich. Wer jetzt einen Erotikroman erwartet, liegt allerdings (zum Glück....oder leider) falsch. Am besten, du liest es und bildest dir selbst ein Urteil. Die Meinungen gehen da weit auseinander.

Ich fand den Roman sprachlich gelungen, formal gut konstruiert und inhaltlich bisweilen erhellend.

Heike Ruhe

Miko Sophie Kühmel,Kintsugi, Fischer Verlag 2019,304 Seiten

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