Gäbe es einen Wettbewerb für Autor:innen verstörender Geschichten oder besonders skurriler Charaktere, Ottessa Moshfegh wäre mit großer Sicherheit Anwärterin auf einen der vorderen Plätze. Nach ihren ebenfalls großartigen Romanen Eileen und Mein Jahr der Ruhe und Entspannung, legt sie jetzt mit Der Tod in ihren Händen einen weiteren Beweis ihrer Ausnahmestellung vor.
Die Witwe Vesta Gul findet auf ihrem morgendlichen Spaziergang eine geheimnisvolle Notiz: Ihr Name war Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie getötet hat. Hier ist ihre Leiche. Nur, es findet sich weit und breit keine Leiche. Diese mysteriöse Nachricht lässt Vesta keine Ruhe. Eigentlich hatte sie sich in die Einsamkeit der nordamerikanischen Wildnis zurückgezogen, um den Tod ihres Mannes zu verarbeiten und das Ende ihres vermeintlich glücklichen Ehelebens zu betrauern. Jetzt aber beginnt sie, Nachforschungen anzustellen. Mutmaßungen über die Person Magda, Vermutungen über die Art des Verbrechens oder den Tathergang. Und natürlich: wer war der Täter oder die Täterin? Diese Gedankengespinnste lassen Vesta keine Ruhe und sie verstrickt sich mehr und mehr in eine parallele Wirklichkeit.
Wähnt man sich nach den ersten Seiten des Romans noch auf sicherem Terrain: klassische Eröffnung eines Kriminalromans oder vielleicht eines Mystery Thrillers, beschleichen einen nach und nach Zweifel. Nicht am Tathergang, sondern an der Zurechnungsfähigkeit Vestas, zumindest aber an der Verlässlichkeit ihrer Erzählung. Finden Dialoge wirklich statt ? Oder malt Vesta sie sich nur aus ? Legt sie den von ihr Befragten ihre Antworten nur in den Mund? Analog zur Schaffung eines literarischen Werks, beginnt sie, ihre eigene Geschichte zu schreiben, ihre Lebenserzählung umzudeuten. Wir befinden uns fast ausschließlich im Reich ihrer Gedanken und Wahrnehmungen und genau wie Vesta ihr Leben, vor allem ihre „glückliche“ Ehe, immer stärker in Frage stellt, beschleichen uns nach und nach Zweifel an ihrem Gemütszustand.
Ottessa Moshfegh ist eine Meisterin der subtilen Charakterzeichnung, gerade auch vermeintlich schräger Persönlichkeiten, und so gelingt es ihr auch hier vortrefflich, über kleine Brüche oder feine Abweichungen im Ausdruck, Zweifel zu säen und uns Leser:innen mitzunehmen – auch auf brüchiges Eis.
Bernhard Sinn
Ottessa Moshfegh, Der Tod in ihren Händen, Carl Hanser Verlag, 2021, 256 Seiten