Ich muss gestehen, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als ich dieses Buch endlich fertig gelesen hatte und es auch mit vier Jahren Abstand immer noch voll und ganz meiner hohen Erwartungshaltung gerecht wurde. Ohne zu dick aufzutragen, kann ich behaupten, dass dieses Buch eines meiner Lieblingsbücher der letzten Jahre ist, zumindest aber eines der Bücher, die mich am nachhaltigsten beeindruckt oder ins Grübeln gebracht haben. Das Buch ist 2019 erschienen, hat den National Book Award abgeräumt und ich wartete seitdem auf die Übersetzung und die Veröffentlichung in Deutschland. Dem Kjona Verlag und den beiden Übersetzerinnen gebühren nun mein Dank für dieses sehr gelungene und großartig übersetzte Kleinod.
Vertrauensübung besteht im Grunde aus drei Teilen mit unterschiedlicher Erzählperspektive und -Haltung, die nebeneinander stehen und erst nach genauerer Lektüre mit einander in Verbindung gebracht werden können. Auch dann wird der Zusammenhang nicht vollkommen eindeutig aufgelöst, sondern beruht stark auf Vermutung und Intuition. Ein roter Faden besteht allerdings in dem Umstand, dass sich alle drei Teile um die Themenfelder Macht, Vertrauen und sexuelle Gewalt drehen. Es werden unterschiedliche Aspekte dieser Problematiken aus ganz verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Es gibt eine grobe chronologische Abfolge über mehrere Jahre und das Personal wechselt, mindestens die Namen.
Der erste Teil handelt von den Ereignissen an der CAPA Schauspielschule, hauptsächlich von der kurzen einschneidenden Liaison zwischen Sarah und David und den manipulativen Methoden ihres Lehrers Mr. Kingsley. Die Beiden tauchen auch in der anschließenden Erzählung an prominenter Stelle wieder auf, in der Karen, im ersten Teil nur eine Randfigur, die Geschichte ihres Missbrauchs durch einen deutlich älteren Lehrer und der resultierenden ungewollten Schwangerschaft erzählt. Sie erzählt allerdings eine völlig andere Version der damaligen Ereignisse an der CAPA. Deutlich wird nur, was für ein toxisches, manipulatives Klima an der Schule geherrscht hat.
Im dritten Teil schließlich begegnen wir Claire, die, auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter an einer ähnlichen Schule, an einen sexuell übergriffigen Professors gerät und einer versuchten Vergewaltigung nur knapp entkommt.
Diese drei Episoden sind nur lose verknüpft, lassen sich aber alle auf das Thema Macht und Machtmissbrauch, besonders in schulischen und künstlerischen Zusammenhängen runterbrechen. Durch das Verschieben des Personals und der verschiedenen Perspektiven gelingt es Choi in meinen Augen sehr gut, den universellen Charakter dieser Strukturen zu betonen und die einzelnen Vorfälle über das rein individuelle oder persönliche zu erheben und weitere Bedeutungsebenen hinzufügen. Was ist wahr, was ist Fiktion beziehungsweise Erzählung? Ist das überhaupt wichtig?Auf was können wir uns verlassen? Susan Choi treibt ein raffiniertes Spiel und zieht uns immer tiefer in den Strang ihrer Erzählung. Unterstützt wird diese Strategie durch viele reflektive Einschübe, besonders in Karens Erzählung, und durch einen stetigen Wechsel der Erzählhaltung. Das macht das Buch zu einer wie ich finde recht anspruchsvollen Lektüre, die mich teilweise irritiert zurück gelassen, in jedem Fall aber zur Auseinandersetzung mit dem Text gebracht hat. Irgendwann fügen sich allerdings die Teile des Puzzles zusammen und es wird die geistige Schärfe und Brillianz dieses wichtigen Beitrags zur #metoo Diskussion deutlich. Ein großartiges Buch !
An dieser Stelle noch einmal vielen Dank an den @kjonaverlag für das großzügige Zurverfügungstellen eines Rezensionsexemplars und für die schöne Gestaltung des Buchs.
(übersetzt von Tanja Handels und Katharina Martl)
Bernhard Sinn