1914. Henni Binneweis ist 12 Jahre alt, als der erste Weltkrieg beginnt. Sie und ihr Bruder Kuddl finden das wunderbar. In Kriegszeiten hat man viel mehr Freiheiten. Henni zieht mit der Bande ihres Bruders um die Häuser Berlins, immer auf der Suche nach Abenteuern. Sie spielen Spion und der Nachbar, den sie anzeigen, wird tatsächlich auf Nimmerwiedersehen abgeholt.

„So wurde das Leben immer bunter, je länger der Krieg dauerte. Nicht nur der Krüppel wegen, von denen es immer mehr gab, und der malerischen Gefangenen, die ab und zu durchs Brandenburger Tor getrieben wurden. Alles fand nun in den Höfen und auf der Straße statt, die Leute verkauften erst ihre Erbsachen, dann klauten sie, zuletzt verkauften sie sich selbst.“

„Doch ganz plötzlich, ohne jeden Tusch, ohne Endsieg, ohne auch nur wenigstens eine Rede vom Kaiser war der Krieg vorbei.“ In der Zeitung steht „eine ellenlange Liste mit Bedingungen, die das Deutsch Reich zu erfüllen hatte. Zu erfüllen hatte, damit was nicht geschah? Henni begriff überhaupt nichts. Was konnte denn passieren? Die deutschen Armeen hatten doch dauernd gesiegt! Und was war mit den Millionen Kriegsgefangenen und den abertausend Kilometern Landgewinn? Die konnte man doch tauschen! Oder war das alles nichts wert?

„Wir führen doch“, rief sie verärgert, und an dem Abend heulte sie richtig dicke Tränen in ihr Kissen.“

Jetzt ist also der Krieg vorbei. Henni ist 16 Jahre alt und macht sich ans Erwachsenwerden. Feiern, tanzen, Geld verdienen. Sich tief in die grünen Augen schauen lassen, nackig tanzen, für Henni kein Problem. Ebenso wenig wie auf zudringliche Finger hauen oder sich aus einer Situation herausquatschen.

Wir erleben den ersten Weltkrieg und die Anfangszeit der Weimarer Republik aus Innensicht. Aber eben nicht aus der Sicht eines reflektierten Erwachsenen, sondern aus der eines Kindes, das zu einer naiven jungen Frau wird. Henni ist patent und weiß sich zu helfen. Sie will Spaß, etwas erleben und hat durchaus ein gutes Herz. Aber sie ist ein oberflächlicher Charakter und hat kein Verständnis für politische Zusammenhänge oder die Grausamkeiten des Lebens. Genau in diesem Kontrast wirken die mit flotter Schreibe erzählten Geschichten umso eindrücklicher. Es liest sich wie ein Unterhaltungsroman, aber das Buch hat Tiefgang.

Bärbel Hanauske

Tim Krohn, Die heilige Henni der Hinterhöfe, Kampa Verlag 2020, 256 Seiten

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