Keine Kinder zu bekommen erspart Leid. Verhüten rettet Leben. Kinderkriegen ist unmoralisch, vor dem Hintergrund einer hoffnungslos überbevölkerten Welt.Das sind die zentralen Thesen des Artikels, den die Lehrerin Eva Lohaus veröffentlicht und damit nicht nur an ihrer Schule einen regelrechten Shitstorm entfacht, sondern sowohl ihr eigenes, als auch das Leben der anderen drei Protagonistinnen in Verena Keßlers Roman Eva gehörig durcheinander wirbelt.

Da sind die beiden Schwestern Sina und Mona. Sina wünscht sich ein Kind. Vergeblich. Trotz aktiver Familienplanung, Untersuchung in Kinderwunschklinik, Hormonbehandlung etc. Oder ist vielleicht ihr Kinderwunsch doch nicht groß genug, sie keine ideale Mutter, ihr Partner doch nicht der richtige? Sina zweifelt.

Mona hingegen wird schnell und eher ungewollt schwanger, beim zweiten Mal sogar mit Zwillingen, und ist grenzenlos überfordert. Hier ist die Rollenverteilung in der Beziehung eher klassisch. Der Mann verdient das Geld, die Frau kümmert sich um den Rest, was auf Dauer nicht gut gehen kann, weil der „Rest“ einfach viel zu viel ist.

Dann ist da die namenlose Mieterin, die in Monas Haus zieht. Alleine. Aber sie hatte mal ein Kind. Und sie war mal Sekretärin an der Schule, an der Eva Lohaus gearbeitet hat.

So sind alle vier Frauenporträts locker verbunden, alle drehen sich um das zentrale Thema Mutterschaft aber alle haben einen völlig unterschiedlichen Schwerpunkt. Das Thema wird aus völlig unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Wertfrei und unvoreingenommen. Obwohl die einzelnen Schicksale sehr emotional dicht und empathisch dargestellt werden, wird keine Tendenz, in welche Richtung auch immer erkennbar, wird kein Urteil gefällt.

Das ist wirklich ganz großes Gefühlskino, was uns Verena Keßler in ihrem neuen Roman Eva bietet. Mich hat der Roman sehr berührt, die Schicksale der Protagonistinnen sehr bewegt. Gerade auch als Mann, fand ich viele Überlegungen und Formulierungen sehr erhellend und pointiert. Vor allem aber hat er mich in seiner sprachlichen Schlichtheit und Schönheit gepackt.

Ein weiteres Jahreshighlight!

Bernhard Sinn

Verena Kessler, Eva, Hanser Verlag 2023, 202 Seiten

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